Frau Voß, das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft (BEL) setzt sich für zukunftsfähige Agrarpraktiken ein. Welche Kernstrategien verfolgen Sie, um Landwirtschaft nachhaltiger und resilienter zu gestalten?
Anja Voß, BEL:
Bevor ich auf die Kernstrategien eingehe, ist es wichtig zu verstehen, warum eine enkeltaugliche Landwirtschaft unerlässlich ist. Damit wir auch in Zukunft sicher und gut auf der Erde leben können, dürfen wir den Planeten nicht endlos belasten. Wir brauchen sauberes Trinkwasser, gute Luft, gesunde Ökosysteme und ein stabiles Klima. Dank der Wissenschaftler des Stockholm Resilience Center, kennen wir die neun planetaren Grenzen[1], die wir beachten müssen, um die Erde nicht zu überlasten. Und wir wissen auch, dass aktuell sechs dieser neun Grenzen – zum Teil massiv – überschritten sind.
Einer der Hauptverursacher der aktuellen Grenzüberschreitungen ist die Art und Weise, wie wir Nahrung produzieren. Also maßgeblich die Landwirtschaft und deren Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden. Die Frage ist also: Wie kehren wir in den zukunftssicheren Raum der planetaren Grenzen zurück? Alle Handlungen, die diesen Punkt nicht berücksichtigen sind nicht enkeltauglich. Als Bündnis fordern wir diese zielgerichtete, bäuerliche Wirtschaftsweise ein: Nur so können wir die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen sichern.
Konkret bedeutet enkeltaugliche Landwirtschaft:
- Rückkehr in den sicheren Raum innerhalb der planetaren Grenzen.
- Schutz von Insekten, Vögeln und anderen Tieren in Fluren und Feldgewässern.
- Erhalt der Bodenfruchtbarkeit durch nährstoffreiche, vielfältige Anbausysteme.
- Vermeidung des Eintrags von Giften in Boden, Trinkwasser, Luft und Lebensmittel.
- Wirtschaftliche Stabilität für Bäuerinnen und Bauern.
- Unabhängigkeit von der globalen Agrarindustrie.
Die Transformation der Landwirtschaft erfordert Kooperationen zwischen Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft. Welche Erfolgsmodelle oder Herausforderungen erleben Sie in der Zusammenarbeit mit Unternehmen?
Anja Voß, BEL:
Wenn das Weltwirtschaftsforum (WEF) in seinem Global Risk Report 2024[2] den Verlust der biologischen Vielfalt und den Zusammenbruch von Ökosystemen als die größten Risiken für Unternehmen in den nächsten zehn Jahren bezeichnet, ist es erstaunlich, dass viele Unternehmen dieses Thema noch nicht ausreichend priorisieren. Mehr als die Hälfte des weltweiten BIP hängt von den Leistungen der Natur ab.
Die Natur schenkt uns Dinge, die wir Menschen bestenfalls in kleinem Maßstab bereitstellen können, niemals aber in globalen Dimensionen. Sei es die Verfügbarkeit von Rohstoffen, Sauerstoff zum Atmen, sauberes Trinkwasser oder fruchtbare Böden. Wissenschaftler sind sich einig:Der Biodiversitätsverlust ist eine größere Bedrohung als der Klimawandel.
Beim Klimawandel geht es darum, wie wir leben. Beim Artensterben ist fraglich, ob wir leben!
Für Unternehmen und Gesellschaft ist der Schutz der Artenvielfalt daher kein wohlklingendes Ideal, sondern eine existenzielle Notwendigkeit. Er sollte denselben Stellenwert genießen wie wirtschaftlicher Erfolg – denn ohne funktionierende Ökosysteme gibt es weder langfristige Wertschöpfung noch stabile Märkte. Einen „Plan B“ für unseren Planeten gibt es nicht. Unser Bündnis setzt daher auf fundierte wissenschaftliche Analysen und den offenen Dialog mit Wirtschaft und Politik. Nachhaltiges Wirtschaften ist keine moralische Pflicht, sondern die einzige zukunftsfähige Strategie.
„Enkeltauglichkeit“ ist ein starkes und emotional aufgeladenes Konzept. Wie inspirieren Sie Stakeholder aus der Wirtschaft, diese langfristige Perspektive in ihre Entscheidungsprozesse zu integrieren?
Anja Voß, BEL:
Die knapp 60 Bio-Unternehmen, die unser Bündnis tragen, bieten eine Vielzahl von ambitionierten Best-Practice-Beispielen und jede Menge Inspiration. Diese Unternehmen tragen Nachhaltigkeit und enkeltaugliches Wirtschaften seit ihrer Gründung in ihrer DNA. Sie beweisen Jahr für Jahr, dass wirtschaftlicher Erfolg und eine konsequent ökologische sowie soziale Wirtschaftsweise Hand in Hand gehen können.
Der Name Voelkel zum Beispiel steht seit vier Generationen für traditionell hergestellte Frucht- und Gemüsesäfte, Fruchtsaftvariationen und Erfrischungsgetränke in Demeter- und Bio-Qualität. Neben Seniorchef Stefan Voelkel haben auch seine vier erwachsenen Söhne in der Bio-Kelterei ihre Berufung gefunden und arbeiten im Unternehmen. 2011 hat sich die Familie Voelkel dazu entschieden, das Unternehmen in zwei Stiftungen in Verantwortungseigentum zu überführen, deren oberstes Ziel die Förderung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Nachhaltigkeit ist. 90 Prozent des Gewinns der Voelkel GmbH fließen jährlich zurück in das Unternehmen. Die verbleibenden 10 Prozent gehen durch die Satzung festgelegt an gemeinwohlorientierte Projekte. Voelkel engagiert sich dabei besonders für den Erhalt der Artenvielfalt, unter anderem für die ökologische Saatgutzüchtung und den Anbau samenfester Gemüsesorten. Voelkel hat sich bereits zum zweiten Mal nach den Kriterien der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) bilanzieren lassen und mit 663 Punkten eines der besten Ergebnisse in der Historie der GWÖ für Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden erzielt. Im Jahr 2024 erwirtschaftete Voelkel 140 Millionen Umsatz, bei einem Wachstum von 20 Prozent.
Oder die neueste und aufsehenerregende Maßnahme der Neumarkter Lammsbräu[3]: Sie verzichtet seit dem Geschäftsjahr 2025 auf ein Prozent ihres jährlichen Umsatzes von zuletzt rund 31,7 Millionen Euro, um die mehr als 180 Landwirte in ihrer Erzeugergemeinschaft für ökologische Braurohstoffe (EZÖB) für deren Gemeinwohlleistungen zu honorieren. Ziel dieser bislang beispiellosen Initiative ist: Bio-Bauern fair dafür zu bezahlen, dass sie nicht nur gute Lebensmittel erzeugen, sondern auch einen Mehrwert für Mensch und Natur erbringen, indem sie unter anderem für Artenvielfalt, saubere Luft und gesunde Böden sorgen. Und der Erfolg gibt Bio recht. Bio ist längst nicht mehr das Aushängeschild einer Werte-Elite, sondern ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Verbraucher erwarten mittlerweile, dass Unternehmen Verantwortung übernehmen: für die Herkunft ihrer Produkte, für die Bedingungen, unter denen sie hergestellt werden, und für ihre Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit.
Das Bündnis- Gründungsmitglied, die Allos Hof-Manufaktur, gehört zur europäischen Ecotone Gruppe, die Marktführer im Bereich Bio-Lebensmittel ist. Die unternehmensweite Mission des Unternehmens lautet „Food for Biodiversity“. Darunter fasst Allos vielfältige Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Biodiversität, wie 100% Bio-Produkte, überwiegend vegetarische und vegane Lebensmittel und die Verwendung alternativer Rohstoffe, um der Standardisierung von Lebensmitteln entgegenzuwirken. Zudem realisiert Allos biodiverse Anbauprojekte in der Lieferkette für mehr Diversität auf dem Acker (u.a. biodiverser Anbau von Hafer in Deutschland oder von Reis, Hafer und Dinkel in Italien (…) sowie eigene Umweltschutzprojekte wie die langjährige Blühwiesen-Initiative „Biene sucht Blüte“. Mit Biene sucht Blüte werden neben eigenen Flächen an den Werken in Freiburg und Drebber und gepachteten Flächen in der Umgebung viele Wiesen auch von Städten, Initiativen sowie von Privatpersonen eingesät und gepflegt. Allos unterstützt diese Projekte mit Saatgutspenden. Inzwischen finden Bienen und andere Insekten deutschlandweit auf über 20 Hektar „Allos“-Blühflächen ein Zuhause. Darüber hinaus verschenkt Allos Tausende von Tütchen mit insektenfreundlichen Bio-Saatgut an Kunden, Schulen, Initiativen und andere interessierte Stakeholder.
Diese Beispiele verdeutlichen, wie dies wirtschaftlich funktionieren kann.
Wie bewerten Sie die aktuellen politischen Rahmenbedingungen für nachhaltige Landwirtschaft in Deutschland, und welche Veränderungen wären aus Ihrer Sicht dringend notwendig?
Anja Voß, BEL:
Es gibt einen klaren gesetzlichen Auftrag an alle EU-Mitgliedsstaaten: Bis 2030 soll der Einsatz und das Risiko von Pestiziden in Europa halbiert werden, so hatte es die Farm-to-Fork-Strategie der EU-Kommission angekündigt. [4] Der massive Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide in der Landwirtschaft befeuert den Biodiversitäts-Kollaps, gefährdet die menschliche Gesundheit und beeinträchtigt die Fruchtbarkeit unserer Böden. Die wissenschaftlichen Warnrufe sind laut und deutlich. Deshalb appellieren wir an Politik und Behörden die Gefahr für Mensch und Natur ernst zu nehmen und keine wertvolle Zeit für den dringend notwendigen Wandel zu verspielen.
In der Vergangenheit haben konservative Politiker*innen die Pestizid-Reduktion torpediert und der enorme Einfluss der Agrarlobby, die Profit über Gemeinwohl stellt, dringend notwendige Reformen blockiert. Für uns ist daraus die Erkenntnis erwachsen: Für eine zukunftsfähige Pestizid-Politik können wir uns nicht allein auf Regierung oder Behörden verlassen. Deshalb haben wir auf EU-Ebene juristische Schritte gegen zwei – für Umwelt, Gesundheit und Biolandwirtschaft – besonders kritische Wirkstoffe eingeleitet. Die Strategie: Rechtliche Präzedenzfälle zu schaffen für eine grundlegende Reform des Pestizid-Zulassungssystems. Dafür ziehen wir, wenn nötig, bis vor den europäischen Gerichtshof.
Von der neuen Regierung fordern wir, entschlossen zu handeln, die Weichen für die Transformation der Landwirtschaft in Deutschland zu stellen und den schrittweisen Ausstieg aus chemisch-synthetischen Pestiziden bis 2035 voranzutreiben.
Was können Unternehmen und CEOs konkret tun, um eine enkeltaugliche Landwirtschaft aktiv zu fördern – sowohl in ihrer Lieferkette als auch darüber hinaus?
Anja Voß, BEL:
Ich denke, es ist klargeworden, dass wir jedem Unternehmen dringend empfehlen, Biodiversität in seine Wesentlichkeitsanalyse aufnehmen und Schutzmaßnahmen als strategischen Bestandteil zu integrieren. Im Kleinen, wie im Großen – entlang der Lieferkette aber auch durch konkrete Maßnahmen, wie die giftfreie Pflege von Grünflächen oder durch mehr Bio in der Kantine. Nicht nur Verbraucher honorieren Unternehmen die beherzt voranschreiten, sondern auch zukünftige Mitarbeiter.
Die Mitgliedschaft in unserem Bündnis ist Unternehmen der Bio-Branche bzw. Unternehmen, die sich zu 100% mit unseren Werten identifizieren vorbehalten. Aber selbstverständlich können Sympathisanten unseren gemeinnützigen Verein und damit unsere Arbeit für eine Zukunft ohne Ackergifte durch Spenden unterstützen oder mit uns in den Dialog gehen.
Über das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft:
Das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft ist der einzigartige Zusammenschluss von Bio-Unternehmen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für eine nachhaltige Land- und Ernährungswirtschaft stark machen. Seit Anfang 2024 gehen wir gemeinsam rechtlich gegen die Genehmigung besonders umstrittener Pestizide vor und setzen uns auf politischer Ebene für eine Agrarwende ohne Ackergifte ein.
Lesen Sie hier mehr zum Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft.
[1] https://www.stockholmresilience.org/research/planetary-boundaries.html
[2] https://www.weforum.org/publications/global-risks-report-2024/
[3] https://biohandel.de/bio-wissen/best-practise/lammsbraeu-bezahlt-landwirte-fuer-gemeinwohlleistungen
[4] https://germany.representation.ec.europa.eu/news/europaischer-gruner-deal-weniger-chemische-pestizide-umfassende-renaturierung-2022-06-22_de




