Den Lebenszyklus von Kunststoffen und Textilien neu definieren: Wie biologische Recyclingtechnologien die Industrie verändern können

Jedes Jahr werden laut einer OPEC-Studie aus dem Jahr 2022 weltweit mehr als 460 Millionen Tonnen Kunststoff produziert, doch nur etwa 9 Prozent der Plastikabfälle werden gemäß dem UN-Entwicklungsprogramm recycelt. Der Rest landet in Verbrennungsanlagen, auf Mülldeponien und, zu aller Leidwesen, in erheblichem Maße in der Natur. Jeder kennt die Schreckensbilder von mit Plastik verseuchten Ozeanen, die in diesem Zusammenhang um die Welt gegangen sind, und jeder kennt auch das Problem von Mikroplastik.

Eine Veränderung unseres Konsumverhaltens, ausgerichtet an dem aus dem Englischen stammenden 3R-Prinzip „reduce, reuse, recycle“ (reduzieren, wiederverwenden, recyceln), scheint angesichts eines drohenden globalen „Plastikinfarkts“ mehr als notwendig. Indem wir Plastikprodukte bereits beim Kauf vermeiden, Einmalplastikverpackungen ächten und Plastikabfälle effizient und nachhaltig recyceln, können wir helfen, unnötiges Plastik zu vermeiden. In den vergangenen Jahren ist unser Bewusstsein für das Ausmaß der Kunststoffproblematik gestiegen und hat den Weg für einige öffentliche Maßnahmen geebnet. Mehr als 100 Staaten haben Einwegplastiktüten bereits ganz oder teilweise verboten. Außerdem wurde auf der fünften UN-Umweltversammlung (UNEA-5) beschlossen, bis Ende 2024 ein globales Abkommen zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung zu verabschieden.

Um der Flut an Plastikmüll jedoch wirksam entgegentreten zu können, brauchen wir auch fortschrittliche Recyclingsysteme.

Recycling von Abfällen

Aber warum ist das Recycling von Plastikabfällen bisher so schwierig? Zunächst gibt es ein technologisches Hindernis: Die zahlreichen unterschiedlichen Kunststoffarten machen das Sortieren und Recyceln von Plastikabfällen zu einer Herausforderung. Nehmen wir als Beispiel das heute am häufigsten vorkommende Polyethylenterephthalat, ein Polyester mit dem Kurznamen PET. PET kommt in Getränke- und Kosmetikflaschen, Lebensmittelschalen, medizinischen Geräten, Kleidung und vielen anderen Produkten des täglichen Lebens vor. Enthaltene Additive und Farbstoffe sowie die mögliche Verunreinigung durch Lebensmittelreste oder Flüssigkeiten erschweren das Recycling erheblich. PET ist auch in mehrschichtigen oder aus mehreren Materialien bestehenden Kunststoffen zu finden, die nur schwer voneinander zu trennen sind, um sie sortiert recyceln zu können.

Neben diesen technischen Herausforderungen gibt es zusätzlich ein Infrastrukturproblem. Damit Plastik effizient recycelt werden kann, ist eine gesamte Wertschöpfungskette notwendig: von der Sammlung des Abfalls über die Sortierung der unterschiedlichen Plastikrohstoffe bis hin zum eigentlichen Recyceln. In vielen Teilen der Welt gibt es jedoch solche Systeme (noch) nicht, so dass vorhandene Recyclingkapazitäten wegen fehlender verwertbarer Ausgangsmaterialien nicht ausgeschöpft werden können. In Europa ist die Infrastruktur zwar vorhanden, aber leider immer noch unzureichend. Bei Textilien zum Beispiel muss noch viel getan werden! Polyesterhaltige Kleidung wird in nur sehr geringem Umfang gesammelt und recycelt. Hier stehen wir vor einer großen Herausforderung. Gesetzliche Vorschriften sollen nun dabei helfen, auch in der Textilindustrie und bei den Verbrauchern eine Verhaltensänderung herbeizuführen. So gilt ab Januar 2025 eine neue europäische Vorschrift, die die getrennte Sammlung von Textilien vorschreibt.

Neue Technologien

Die gute Nachricht ist, dass die größte technologische Hürde mittlerweile überwunden wurde. Zahlreiche Innovationen im Recycling lassen uns auf eine kreislauforientierte Zukunft hoffen. Ihre Überführung in einen industriellen Maßstab dürfte in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass sie in mehreren Fabrikprojekten in Europa zügig zum Einsatz kommen.

Eine zentrale Rolle dürften Depolymerisationstechnologien spielen. Im Gegensatz zum werkstofflichen Recycling, bei dem das Plastik gemahlen und zu Pellets verarbeitet wird, bricht die Depolymerisation die Molekülketten auf und zerlegt die Kunststoffe in ihre ursprünglichen Monomere, die nach ihrer Reinigung für die Herstellung neuer hochwertiger Kunststoffe verwendet werden können und damit langfristig die hier traditionell verwendeten fossilen Brennstoffe ersetzen könnten. Die Vorteile für unsere Gesellschaft und die Umwelt sind enorm: Neben einer geringeren Kunststoffverschmutzung wird die Menge an Treibhausgasen reduziert.

Eine Depolymerisation kann durch chemische Verfahren unter Verwendung spezifischer Lösungsmittel oder durch thermische Prozesse mittels Hitze erfolgen. Vielversprechend ist die enzymatische Depolymerisation, bei der natürlich vorkommende Enzyme, sogenannte biologische Katalysatoren, zum Abbau von Polymeren eingesetzt werden. Diese von unserem Unternehmen Carbios entwickelte Technologie wird als „Biorecycling“ bezeichnet. Sie ist universell einsetzbar und kann sämtliche Arten von Plastikabfällen verarbeiten, auch solche, die mit anderen Methoden nicht recycelt werden können und bisher im besten Fall in einer Verbrennungsanlage landen.

Plastikabfall ist wertvoll

Die Möglichkeiten fortschrittlicher Recyclingtechnologien verwandeln Plastikabfälle wieder in einen wertvollen Rohstoff.

Zusammen mit der schrittweisen Einführung verbesserter und effizienterer Sortier- und Sammelsysteme bilden diese innovativen Recyclingtechnologien den Ausgangspunkt für eine leistungsfähige Kreislaufwirtschaft. Statt wie bisher die End-of-Life-Materialien teuer zu entsorgen, bekommen sie nun einen wirtschaftlichen Wert als mögliche Rohstoffe mit enormem Potential.

Um eine Kreislaufwirtschaft aufzubauen, die die Plastikverschmutzung wirkungsvoll eindämmen kann, müssen wir länderübergreifend zusammenarbeiten. Hierbei spielen die europäischen Rechtsvorschriften eine wichtige Rolle. Sie tragen zur Beschleunigung des ökologischen Wandels und zur Harmonisierung der Vorschriften auf dem gesamten Kontinent bei. Erst jüngst im April verabschiedete das Europäische Parlament neue Maßnahmen, um die Menge an Verpackungen zu reduzieren und sie nachhaltiger zu machen. So werden einige Arten von Einwegplastikverpackungen in den Mitgliedstaaten sukzessive ab spätestens 2030 verboten sein.

Langfristig bin ich zuversichtlich, dass solche Regeln das Entstehen einer gemeinsamen Strategie und einer europäischen Wertschöpfungskette fördern werden. Vom Produktdesign bis zur möglichen Wiederverwertung müssen wir den Lebenszyklus von Kunststoffen gemeinsam überdenken und in einer europäischen Vision umsetzen. Die Herausforderung besteht darin, von einem „Ende des Produktlebenszyklus“ zu einem „Produktverwendungszyklus“ zu gelangen. Der Gedanke einer europäischen Wertschöpfungskette hat uns veranlasst, unsere erste industrielle Produktionsanlage im Nordosten Frankreichs zu errichten. An der Grenze zu Belgien und Luxemburg und nur einige Kilometer von Deutschland entfernt – allesamt Länder mit etablierten Plastiksammel- und -sortiersystemen. Die Anlage befindet sich derzeit im Bau und wird die erste PET-Biorecyclinganlage der Welt sein. Sie soll ab 2026 jährlich 50.000 Tonnen PET-Abfälle in ihre ursprünglichen molekularen Bestandteile zerlegen und damit den Rohstoff bilden, aus dem dann wieder recycelte PET-Verpackungen und Textilien hergestellt werden können. Der Standort des Werks hat auch strategische Bedeutung für die künftige Versorgung der Anlage. Dabei ist die regionale Verfügbarkeit recycelbarer Plastikabfälle entscheidend, um planbar, skalierbar und nachhaltig zu sein. Langfristig wollen wir die Zahl der Biorecyclinganlagen mit Hilfe eines Lizenzmodells vervielfachen, um so eine lokale Versorgung und ein effizientes Recyceln zu ermöglichen. Mit einem europäischen Ansatz können wir ein nachhaltiges Kunststoff-Ökosystem schaffen, das den Anforderungen der Kunststoffindustrie, seinen Kunden und Verbrauchern gerecht wird und gleichzeitig einen strategischen Beitrag zur europäischen Wirtschaft leistet.

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