Dr. Tanja Rückert ist seit dem 1. Januar 2023 Geschäftsführerin und Chief Digital Officer (seit 2021) der Robert Bosch GmbH und unter anderem zuständig für den Unternehmensbereich Industrial Technology und Digital Business and Services. Außerdem ist sie zuständig für das Geschäft in Europa. Tanja Rückert wurde am 27. Dezember 1969 in Bad Windsheim geboren, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie studierte Chemie an der Julius Maximilians Universität in Würzburg sowie der Swansea University in Wales und promovierte an der Universität Regensburg.

Frau Dr. Rückert, mehr als 5.000 KI Expert:innen bei Bosch, über 2.000 Patente im KI-Bereich: Wie verändert diese KI-Kompetenz Ihr Unternehmen und wie profitieren davon Ihre Produkte und Kund:innen?

Tanja Rückert: Die Zahlen zeigen bereits, dass wir es mit der Künstlichen Intelligenz ernst meinen: Sie ist für Bosch eine Schlüsseltechnologie und ein Innovationsbooster. Der Einsatz von KI und das Wissen um KI durchdringen inzwischen allunsere Geschäftsfelder. Dieses Know-how trifft bei Bosch auf ein umfassendes Domänenwissen –kaum jemand kennt die Produktion oder die Mobilität so wie wir. Wir bringen also das Beste aus Hard- und Software zusammen. Und davonprofitieren selbstverständlich unsere Kundinnen und Kunden. Siebekommen Produkte und Lösungen, die sicherer, effizienter, smarter und komfortabler sind. Nehmen Sie das automatisierte Fahren: KI sorgt dafür, dass Fahrzeuge Situationen noch präziser einschätzen und sicherer reagieren. Oder in der Produktion: Unsere Kunden erhalten Lösungen, die ihre Fertigungsprozesse optimieren, Ausfallzeiten minimieren und die Produktqualität massiv verbessern. Bei unseren Haushaltsgeräten hilft KI, millionenfache Kundenfeedbacks zu analysieren und so noch besser auf die Bedürfnisse einzugehen. Kurz gesagt: Wir entwickeln mithilfe von KI  „Technik fürs Leben“.

Vor fünf Jahren hat Bosch einen KI-Kodex festgelegt, um ethische Leitplanken für den Einsatz zu setzen. Seitdem ist in der KI-Entwicklung viel passiert. Wie hat sich Ihr Ansatz und Ihr Verständnis von ethischer KI in den letzten Jahren weiterentwickelt?

Tanja Rückert: Als wir vor fünf Jahren unseren KI Kodex veröffentlicht haben, waren wir damit einer der Vorreiter in der Industrie. Damals haben wir ein klares Fundament gelegt: Wir wollen vertrauenswürdige, sichere und menschenzentrierte KI. Daran hat sich im Prinzip nichts geändert. Gerade angesichts der rasanten Entwicklungen, insbesondere im Bereich generativer KI und agentischer Systeme, ist dieser Kompass wichtiger denn je.

Ein wichtiger Teil unseres Ansatzes ist es von Anfang an gewesen, die Beschäftigten mitzunehmen. Unternehmen können nämlich nur dann verantwortlich handeln, wenn die Mitarbeitenden entsprechend geschult sind. Im Bereich KI fördert Bosch die Weiterbildung seiner Belegschaft durch die „AI Academy“, die bereits über 65.000 Mitarbeitende durchlaufen haben.

Wir unterstützen aber auch Bestrebungen für eine vertrauenswürdige KI außerhalb unseres Unternehmens. So begrüßen wir ausdrücklich die Grundidee der KI-Verordnung, EU-weit harmonisierte Regeln für vertrauenswürdige KI zu schaffen. KI wird sich nur durchsetzen, wenn die Nutzerinnen und Nutzer ihr vertrauen. Gleichzeitig muss vermieden werden, dass die Entwicklung und Nutzung von KI durch Überregulierung beschnitten wird. Das bedeutet konkret, dass die neuen Vorgaben EU-weit einheitlich und möglichst pragmatisch und innovationsfreundlich umgesetzt werden müssen.

Das Bosch-Leitmotiv „Technik fürs Leben“ verbindet Innovationsstreben mit gesellschaftlicher Verantwortung. Wo sind für Sie die Grenzen im Bereich KI erreicht und wie setzen Sie diese konsequent um?

Tanja Rückert: Unser Leitmotiv „Technik fürs Leben“ ist für uns bei Bosch keine leere Phrase, sondern unser täglicher Antrieb. Es impliziert, dass unsere Technologie dem Menschen dienen muss, sein Leben bereichern, sicherer oder einfacher machen soll. In puncto Sicherheit heißt das beispielsweise, dass Datenschutz und die Privatsphäre unserer Kundinnen und Kunden an erster Stelle stehen. Sie entscheiden, was mit ihren Daten passiert. Und auch bei der Künstlichen Intelligenz bleibt die letztliche Verantwortung immer beim Menschen. KI soll unterstützen und entlasten. Unser KI-Kodex ist hierfür unser Leitstern. Und mit unseren eigenen Schulungsangeboten stellen wir sicher, dass unsere Mitarbeitenden für den verantwortungsvollen Einsatz von KI sensibilisiert sind.

Dieses Jahr haben Sie angekündigt, bis Ende 2027 mehr als 2,5 Milliarden Euro in KI zu investieren. Was umfasst dieser Wandel und welche Ziele verfolgen Sie damit?

Tanja Rückert: Ich habe ja bereits erwähnt, dass KI für Bosch eine Schlüsseltechnologie ist. Mithilfe von KI will Bosch zwei Dinge erreichen: Wir wollen unsere Produkte besser machen und die Produktivität im Unternehmen steigern. Es geht darum, mit neuen Mitteln das fortzuführen, was wir ohnehin tun müssen und auch in der Vergangenheit immer getan haben: neues Wachstum zu generieren und unsere Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Mit KI haben wir nun ein sehr potentes Werkzeug dazu in der Hand. Und dafür dienen die Investitionen. Sie fließen in die Weiterentwicklung unserer Mitarbeitenden, in wichtige KI-Infrastruktur wie Rechenzentren und auch in strategische Partnerschaften.

Schon heute verfügt jedes Bosch-Produkt über KI oder ist mit ihrer Hilfe entwickelt oder hergestellt worden. Bosch hat bislang mehr als 2 000 KI-Patente angemeldet. Und mit KI-fähigen Erzeugnissen wollen wir in den nächsten Jahren einen Milliarden-Umsatz erreichen. Sie sehen also: Der Wandel ist real, und er geht rasend schnell. Vor nicht einmal zehn Jahren haben wir über diese Themen noch gar nicht geredet.

Der Wandel wird zudem bestehende Arbeitsprofile verändern, zugleich werden aber auch neue Jobs entstehen, und die Mitarbeitenden werden entlastet. So kann der Einsatz von generativer KI im Arbeitsalltag bei einfachen, repetitiven Aufgaben unterstützen. Zum Beispiel kann KI relevante Informationen zusammenfassen und strukturieren. Dadurch können Arbeitsaufgaben an vielen Stellen effizienter erledigt werden. Auch in der Softwareentwicklung kann generative KI Mitarbeitende entlasten, sodass sie sich auf wichtige Aufgaben konzentrieren können, wie die Programmierung neuer Features.

Mit Beginn des Jahres 2026 werden wir die Plattform Gemini Enterprises in unseren internen KI-Assistenten AskBosch integrieren und über die Basis-Version allen Mitarbeitenden mit eigenem Bosch-Rechner zugänglich machen. Dies ist ein wichtiger Meilenstein in unserer Digitalstrategie: So können Kolleginnen und Kollegen mit digitalem Arbeitsplatz direkt ohne Freigabeprozess KI Agenten erstellen. Der Effekt wird enorm sein: Im Prinzip bekommt jeder Mitarbeitende einen eigenen Assistenten, dem er gezielt Fragen stellen kann oder an den er gezielt Aufgaben delegieren kann.

Die Verbindung von Digitalisierung und Nachhaltigkeit gilt als besonders zukunftsfähig. Dennoch werden die beiden Themen in vielen Unternehmen noch häufig getrennt betrachtet, Abteilungen sprechen nicht miteinander. Wie sorgen Sie als Führungskraft dafür, dass diese Silos abgebaut werden und echte Zusammenarbeit entsteht?

Tanja Rückert: In großen Organisationen werden Sie immer die Gefahr von Silos haben. Bei Bosch fördern wir deshalb grundsätzlich die Kollaboration unter den Geschäftsbereichen und gehen Produktentwicklungen interdisziplinär an. So machen wir die Vielfältigkeit und Diversität in unserem Unternehmen zu unserer Stärke.

Bei den Themen Nachhaltigkeit und Digitalisierung im Speziellen verhindern wir ein Silodenken schon allein dadurch, dass wir sie fest in unserer Unternehmensstrategie verankert haben. Das heißt, hier ist nicht nur eine Nachhaltigkeitsabteilung verantwortlich: Alle Mitarbeitenden blicken über den eigenen Tellerrand und arbeiten an nachhaltigen und digitalen Lösungen. Ein gutes Beispiel sind unsere KI-Studios in der Fertigung, wo unsere Werke eigenständig KI-Lösungen entwickeln, die direkt auf Effizienz und Ressourcenschonung abzielen. Aber auch unsere Kunden fordern Nachhaltigkeit und moderne, digitale Lösungen aktiv ein. Ich denke hier zum Beispiel an Lösungen für die Mobilität, den Bausektor oder Agriculture. Wir müssen also beides immer zusammendenken, um am Markt Erfolg zu haben.

Früherkennung ist ein zentrales Thema, etwa bei KI-basierten Sensoren für Umwelt- oder Produktionsprozesse. Können Sie ein Beispiel nennen, wie solche Anwendungen Nachhaltigkeit und Effizienz zugleich fördern?

Tanja Rückert: Früherkennung, oder im Produktionsumfeld auch Predictive Maintenance genannt, ist ein Paradebeispiel dafür. Mir fallen hier sofort unsere Multiagentensystemen in unserer eigenen Fertigung ein.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: In einem unserer Werke überwachen KI-Agenten permanent die Leistungsdaten einer Produktionsmaschine. Diese Agenten sind hochintelligent, sie lernen aus Milliarden von Datenpunkten, die über die Jahre in unserer Fertigung gesammelt wurden. Dann kommt es zu einer minimalen Abweichung im Verhalten der Maschine – sei es eine minimale Veränderung der Vibration, der Temperatur oder des Energieverbrauchs – und die Agenten schlagen Alarm.

Was passiert dann? Sie machen nicht nur auf das Problem aufmerksam, sondern geben sogar eine detaillierte Handlungsanweisung zur möglichen Fehlerbehebung, führen eine Ursachenanalyse durch und planen notwendige Maßnahmen zur zukünftigen Fehlervermeidung. Sie informieren sogar eigenständig die nächsten Schichten und passen den Schichtplan an. Der große Vorteil: Anstatt dass die Maschine unerwartet ausfällt und die gesamte Produktion stoppt – was enorme Kosten verursacht, Ressourcen verschwendet und Lieferketten stört –, können wir gezielt und vorausschauend warten.

In Bosch-Pilotwerken ist die von uns entwickelte Plattform für agentische KI bereits im Einsatz und ab sofort auch für andere Unternehmen verfügbar und bereits bei ersten Kunden im Einsatz. Lassen Sie mich Ihnen noch ein weiteres Beispiel geben: Bosch Rexroth hat den Wirkungsgrad von Hydraulikpumpen in elektrifizierten Arbeitsmaschinen mithilfe von KI-gesteuerten Algorithmen deutlich verbessert. Das trägt dazu bei, den Lebenszyklus der Maschine zu verlängern.

Viele Unternehmen tun sich schwer, KI-Projekte aus der Pilotphase in den flächendeckenden Einsatz zu bringen. Was sind bei Bosch die wichtigsten Erfolgsfaktoren, damit KI-Lösungen tatsächlich in die Fläche kommen und nachhaltige Wirkung entfalten?

Tanja Rückert: Grundsätzlich ist die Skalierung von neuen Lösungen und Produkten die große Herausforderung. In einem traditionsreichen Großunternehmen wie Bosch können wir hier zum Glück auf ein paar Vorteile setzen: Wir bringen Innovationen ja nicht erst seit gestern auf die Straße. Unser umfassendes Domänenwissen in unseren Geschäftsfeldern erlaubt es uns, genau die Anwendungsfälle zu identifizieren, die einen klaren Mehrwert für unsere Produkte oder Prozesse haben. Und dafür können wir dann maßgeschneiderte Lösungen entwickeln. Wenn Sie so wollen: Wir wissen einfach, wo der Schuh drückt.

Das liegt auch daran, dass wir sehr viel Know-how im Unternehmen haben: Im Bereich KI haben wir nicht zuletzt deswegen etwa 5.000 Expertinnen und Experten, die sich mit dem Thema auskennen. Zusätzlich nehmen wir auch alle anderen Mitarbeitenden ebenfalls zum Thema KI mit, um das Thema in die Breite des Unternehmens zu bringen. Hier setzen wir zum einen darauf, dass wir sie informieren über die wichtigsten Anwendungsmöglichkeiten, aber auch Risiken. Dann bieten wir ihnen Aus- und Weiterbildungsangebote zum Thema KI an, die inzwischen auch schon mehr als 65.000 Beschäftigte genutzt haben. Und schließlich lassen wir sie KI anwenden, damit sie so den Mehrwert erleben können. Das dadurch vorhandene Wissen und die Akzeptanz führen dazu, dass wir eigene Plattformen entwickeln können, wie die für agentische KI oder unsere KI-Studios für die optische Inspektion. Diese ermöglichen es unseren Werken weltweit, mit geringen oder sogar ganz ohne Programmierkenntnisse eigene, skalierbare KI-Lösungen zu entwickeln. Das reduziert Abhängigkeiten und beschleunigt den Rollout. Wir starten in Pilotwerken, sammeln Erfahrungen, optimieren und rollen dann schrittweise aus. Diese Machermentalität, gepaart mit einer klaren Skalierungsstrategie, ist der Schlüssel, um Lösungen auch nachhaltig zum Erfolg zu führen.

Nachhaltigkeit nimmt in den öffentlichen Debatten aktuell weniger Platz ein als noch vor einigen Jahren. Kann die Verbindung mit KI helfen, Nachhaltigkeit wieder zur Priorität zu machen?

Tanja Rückert: Sie haben recht, man kann manchmal schon den Eindruck gewinnen, dass Nachhaltigkeit im öffentlichen Diskurs weniger Aufmerksamkeit erhält. Ich finde das bedauerlich. Aber ich bin auch der festen Überzeugung, dass KI dabei helfen kann, Nachhaltigkeit wieder stärker in den Fokus zu rücken. Ich habe Ihnen ja bereits Beispiele genannt, wie KI Prozesse so optimieren kann, dass sie ressourcenschonender und energieeffizienter werden. Das spart nicht nur Kosten, sondern schont auch die Umwelt. KI liefert uns die Fakten, die Tools und die Innovationen, um Nachhaltigkeit als strategischen Vorteil zu begreifen. Und wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Nachhaltigkeit auch einen wirtschaftlichen Nutzen hat, dann wird sie ganz schnell zur Priorität.

Welchen Rat geben Sie Unternehmen, die KI und Nachhaltigkeit verbinden möchten, aber noch am Anfang stehen?

Tanja Rückert: Ich beschäftige mich mit Bosch und möchte anderen Unternehmen nur ungern sagen, was sie tun sollten. Aber wenn Unternehmen in diesem Bereich noch am Anfang stehen, dann ist mein persönlicher Rat: Kommen Sie vom Reden ins Tun. Analysieren Sie genau – gern auch mit KI-Tools – wo Sie den größten Bedarf haben, beispielsweise beim Energieverbrauch in der Produktion. Glauben Sie mir, KI kann Energieeffizienzprojekte signifkant beschleunigen. Beginnen Sie dann mit interdisziplinären Teams ein klar definiertes Pilotprojekt, bei dem Sie schnell Erfolge sehen. Dafür müssen Sie nicht gleich die komplexeste generative KI-Lösung implementieren. Vielleicht reicht ein simples KI-Modell zur besseren Vorhersage des Energiebedarfs. Fangen Sie außerdem an, datengesteuert zu denken. Denn nur mit relevanten Daten können Sie Fortschritte messen und fundierte Entscheidungen treffen. Und KI ist das perfekte Werkzeug, um aus Daten Wissen und Handlungsempfehlungen zu generieren. Und vielleicht noch ein letzter Rat: Ich bin überzeugt, dass die Mitarbeitenden intrinsisch motiviert sind, ihren eigenen Arbeitsalltag zu verbessern. Geben Sie ihnen niedrigschwellig die Möglichkeit, KI anzuwenden. So schaff en Sie Akzeptanz, wenn die Beschäftigten KI wirklich als nützlichen Begleiter im Alltag begreifen. Das kostet am Anfang alles Zeit und Investitionen, ja. Aber denken Sie zum einen daran, dass sie nicht alles allein machen müssen. Es gibt sicherlich externe Partner, die Lösungen anbieten. Und zum anderen bietet der Anfangsinvest die Chance, das Unternehmen effizienter und resilienter zu machen.

Die Fragen stellten Gregor Vischer und Maike Weismantel.

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