Von Führungskräften wird einiges abverlangt. Sie müssen sich selbst und andere managen, Vertrauen aufbauen, aus Fehlern lernen, die Initiative ergreifen, empathisch sein. Sie sind lernwillig, geübte Teamplayer, identifizieren sich mit den Unternehmenswerten, zeigen keine Angst vor Ungewissheiten, erreichen ihre Ziele. Das alles klingt vertraut, hätte auch vor einem Jahrzehnt so formuliert werden können. Doch gibt es Parameter, die in unserer Gegenwart die Erwartungen an Leadership beträchtlich beeinflussen. Zum einen hat das Transformationstempo noch einmal zugelegt, die Veränderungskurve ist steiler – bei der Führungskraft und im Team, was nicht zwangsläufig synchron verlaufen muss.
Dabei geht es nicht nur um die fortschreitende Digitalisierung oder Erwartungen an KI und Machine Learning. Auch die Weltlage und die daraus resultierende eigene psychische Verfasstheit kann auf soziale Prozesse in Unternehmen einwirken. Hinzu kommt eine volatile Ökonomie. In den Medien wird eine Polykrise vermittelt, täglich werden Gefahren akzentuiert und bebildert, Social Media gerät zum Stressor. Doch Führungskräfte dürfen keine Pessimisten sein. Sie können sich diesem gedanklichen Umfeld allerdings auch nicht entziehen. Gleich wohl bietet Führung einige Verheißungen: Prozesse und Teamkulturen können aktiv mitgestaltet werden, je nach Persönlichkeit, Aufgabe und Beziehungsqualität – auch zur eigenen Führungskraft – wird eine hohe Selbstwirksamkeit erfahren. Man kann viel bewegen. Oftmals mehr als Menschen ohne Führungsrolle.
Vom Wollen und Können
Weitere Faktoren tragen dazu bei, dass Leadership nicht zwangsläufig als Teil einer ideal verlaufenden Berufsbiographie betrachtet wird. Es ist nicht automatisch mit einer hohen Reputationserwartung verbunden. In früheren Zeiten „stieg“ man auf. Das war dann eine „Karriere“, auf die man stolz sein konnte. Heutzutage gilt man auch mit einer Spezialisierung – ohne Führungsverantwortung – als erfolgreich. Nicht wenige würden sogar für sich reklamieren, dass es ohnehin auf ganz andere Dinge ankomme. Insofern sind bei Weitem nicht alle, die auf Basis ihrer Skills durchaus führen könnten, tatsächlich an einer solchen Laufbahn interessiert. Oder sie wissen nichts von ihrer Eignung, weil es hierzu an Feedback mangelt. Sie halten sich vielleicht für zu jung oder zu alt. Dabei kann man im Alter von sechzig Jahren loslegen oder auch schon mit 23 – beides ist in der AOK Hessen Realität.
Bei Hessens größter gesetzlicher Krankenkasse sind über hundert Führungskräfte mindestens 55 Jahre alt. Das ist etwa ein Drittel von Mitarbeitern in einer Führungsrolle. Das gleichen jüngere Menschen aber nicht im ähnlichen Maße aus. Denn weniger als 40 Führungskräfte sind jünger als 35 Jahre. Im mittleren Altersfeld gibt es zusätzlich enorme Potentiale. Statistisch gesehen gibt es gewiss keinen Mangel an Personen, die einen Weg als Führungskraft gehen könnten. Aber scheinbar ist nicht allen bewusst, wozu sie befähigt sind. Das kann man niemandem vorhalten. Sie konnten Führung noch nie ausprobieren. Sie wissen nicht, was ihnen entgeht. Daraus ergibt sich für das Personalmanagement ein klarer Auftrag: Führungskräfte müssen mit einem breit gefächerten Instrumentarium gewonnen, gehalten und entwickelt werden.
Zwar beschäftigen wir uns seit 2010 intensiv mit diesen Fragen, doch heute mit mehr Nachdruck als je zuvor. Der Hemmschuh hierbei bleibt jedoch das Tagesgeschäft – nichts scheint wichtiger als das Erreichen kurzfristiger Ziele, das Leeren der Inbox, das Erfüllen von Quoten, eine hohe Zufriedenheit von Kundinnen und Kunden. Dagegen ist nichts einzuwenden, und doch lohnt sich das Investment unbedingt, um auch das Tagesgeschäft von 2030 und 2035 auf weiterhin hohem Niveau zu gewährleisten. Wir nennen das Gesamtpaket, das wir hierfür geschnürt haben, „Führung in der Transformation“ – daraus ergeben sich so genannte FiT-Module, die teilweise verbindlich durchlaufen werden. Dazu gehören Bausteine wie „Führen in Zeiten von Veränderung“, „Positive Führung“ und von 2026 an „Feedback geben und nehmen“. Die meisten Module indes sind optional und sollen dabei helfen, in eine Führungsrolle hineinzufinden, bestärkt zu werden, ein passendes Mindset zu entwickeln und den eigenen Kompetenzen zu erweitern. Beispielhafte Wahlmodule nennen sich „Was unterscheidet einen Coach vom Dirigenten?“ oder „Konflikte erkennen und souverän meistern“. Eine optimale Verbindung für Erfahrene und Personen, die mit Führungsaufgaben starten.
Früh genug anfangen
Aber was ist nun mit jenen Menschen, die noch gar keine Führungskräfte sind? Sie erhalten erste wichtige Einblicke, da das Thema bereits in der Ausbildung und vor allem im Studium fest verankert wird. Direkt nach dem dualen Studium an der Technischen Hochschule Mittelhessen können junge Menschen bei uns eine Führungsposition besetzen, die sie zuvor schon in fachlicher Hinsicht bereits kennengelernt haben. Insofern wird es bei der AOK Hessen immer mehr Führungskräfte geben, die jünger als 25 Jahre sind. Selbstverständlich gibt es neben Mentoring, Reverse Monitoring, Patenschaften und Hospitationen auch virtuelle Netzwerke und offene Bildungsangebote für Menschen, die erst einmal herausfinden wollen, ob sie führen können oder wollen. Als sehr hilfreich hat sich die direkte Ansprache von Führungstalenten erwiesen. Das gilt übrigens auch für Menschen, die schon Führungskräfte sind. Sie kommen bislang noch recht selten auf die Idee, sich auf eine andere – möglicherweise attraktivere – Position zu bewerben. Es geht um Ermutigung und ein unterstützendes Feedback, was insbesondere für Beschäftigte unter dreißig gilt. Wir wissen, dass die meisten von ihnen das Thema Führung gar nicht auf ihrer Agenda haben.
Im nächsten Step geht es um ein eng begleitetes Onboarding, damit sich der Rollenwechsel nicht wie ein Sprung ins kalte Wasser anfühlt. Dazu gehört auch der Praxiswissenstransfer im Rahmen der Grundqualifikation – und zwar sofort, nicht erst Monate später. Schließlich greift dann auch das bereits erwähnte FiT Programm. Das schließt einen individuellen Support in Führungskrisen ein. Wir schaffen auch Strukturen, damit sich Frauen enger vernetzen können, da sie nach wie vor im Schnitt stärker mit Care-Arbeit befasst sind als Männer. Was Leadership zusätzlich attraktiv machen kann, sind flexible Arbeitszeitmodelle, Projekt- und Stellvertretungsführung, fachliche Führung (somit nicht zwangsläufig disziplinarisch) sowie die Vermarktung nicht monetärer Attraktivitätsfaktoren. Nicht allen Menschen geht es primär darum, mehr Geld zu verdienen, wenn sie annehmen, dafür sehr viel mehr arbeiten und Verantwortung tragen zu müssen. Die Motive für eine Führungslaufbahn können sehr unterschiedlich sein.
Am Beginn einer Lernkurve
Womit wir noch wenig Erfahrung haben, ist Topsharing. Nicht etwa weil wir es nicht für möglich und in bestimmten Bereichen sogar für sinnvoll erachten. Es gibt bei uns ein junges Führungsduo, das hervorragend funktioniert. In anderen Abteilungen und Projekten fragt man sich jedoch, ob das zur Blaupause taugt und auch anderswo geteilte Führung zum Erfolg führen könnte. Generell müssen Teams eine solche Doppelspitze auch annehmen. An die Kommunikation untereinander werden höchste Ansprüche gestellt. Das Matching muss einwandfrei stimmen. Der Führungsstil sollte sehr ähnlich, vor allem widerspruchsfrei sein. Wohl auch deshalb überwiegt derzeit im Unternehmen noch ein größeres Fragezeichen in diesem speziellen Punkt. Und was ist mit Teams, die sich selbst führen? Auch hier stehen wir noch am Anfang.
Führung muss man wollen. Man wird jedoch nicht „zur Führung geboren“. Diese Position gut auszufüllen heißt, ein Handwerk zu beherrschen. Jedes Handwerk ist grundsätzlich erlernbar. Natürlich nicht für alle. Aber es gibt ganz sicher mehr Talente als Stellen, in allen Altersgruppen. Sie zu finden ist aufwendig, aber unumgänglich. Es mag in dieser Welt und auch in meinem Unternehmen einige Menschen geben, die ihre Fähigkeiten weit überschätzen – so wie überall. Doch das Gegenteil überwiegt meiner Erfahrung nach: Viele kennen ihr Potential nicht in Gänze, ihr Selbstvertrauen hinkt ihren Fähigkeiten hinterher, ihre Vorstellungskraft reicht noch nicht so weit, sie suchen nicht aktiv die Veränderung, haben eventuell noch nie darüber nachgedacht. Sie brauchen deshalb einen Fingerzeig, Zuspruch und Rückhalt, Informationen und Begleitung, praktisches Coaching und das sichere Gefühl, dass noch mehr in ihnen steckt, als sie bislang geglaubt haben. Dabei wollen und müssen wir ihnen helfen.




