Corporate Political Responsibility als Stütze der Demokratie

Man muss weder Bundeskanzler noch Songwriter und Nobelpreisträger sein, um zu bemerken, dass die Welt sich wandelt. Olaf Scholz prägte nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine den Begriff der „Zeitenwende“. Bob Dylan besang sie bereits 1964 mit seiner Hymne der amerikanischen Bürgerbewegung: „The times they are a-changing“.

In der Tat: Wo die Welt gestern noch Gewissheit hatte, dort scheint sie heute aus den Fugen geraten zu sein. Ein brutaler Angriffskrieg auf europäischem Boden? Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Europäischen Union schlecht vorstellbar. Ein verurteilter amerikanischer Ex-Präsident, der von einer Mehrheit der US-Bürger wiedergewählt wird? Klingt verdächtig nach Netflix. Ein erfolgreicher amerikanischer Unternehmer und Techmilliardär, der unverhohlen in den deutschen Bundestagswahlkampf eingreift und Werbung für eine rechtsnationalistische Partei macht? Eine Partei, deren Identität und Name vor allem mit ihrer Vorsitzenden verbunden ist? Sind wahrscheinlich Pranks von Böhmermann. Es ist alles Realität. Leider. Mit Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Damit auch für die Wirtschaft.

Politische Verantwortung übernehmen

Unternehmen sind keine isolierten Gebilde, die ausschließlich nach den Gesetzen des Marktes agieren. Sie sind immer Teil der Gesellschaft, in die sie ihre Stärken und Kompetenzen einbringen sollten. Durch hervorragende Produkte oder Dienstleistungen. Aber auch als glaubwürdige politische Akteure, die an einem Miteinander orientiert sind. Welche Möglichkeiten haben Unternehmen also, auf politische Veränderungen zu reagieren? Viele, im Interesse ihrer Beschäftigten genauso wie im Interesse des Geschäfts. Denn erfolgreiche Unternehmen können dazu beitragen, dass Volkswirtschaften insgesamt gut dastehen. Und widerstandsfähiger sind gegen Diktator:innen, Vereinfacher:innen und Populist:innen. Das Chemieunternehmen Evonik geht seit vielen Jahren noch darüber hinaus: Nach der Gründung vor 17 Jahren blieben Geschichte und Erbe der Vorgängergesellschaften im Nationalsozialismus eine Verpflichtung. Zusätzlich zum unternehmerischen Purpose (oder Sinn) und der Verpflichtung zur Nachhaltigkeit. Dies prägt die unternehmerische Haltung für eine freie, vielfältige und tolerante Gesellschaft. Dafür einzustehen, ist für Evonik, mit weltweit 32.000 Beschäftigten, ein wichtiger Bestandteil der Kommunikations- und Nachhaltigkeitsstrategie.

Seit einigen Jahren gibt es dafür einen Begriff, der vom Berliner Politologen und Berater Johannes Bohnen geprägt worden ist: Corporate Political Responsibility (CPR). Im Grunde meint CPR, dass ein Unternehmen über seine Grenzen hinaus eine politische Verantwortung übernimmt. Nicht für eine bestimmte Partei, sondern für eine politische Weltanschauung. Aber nicht im ideologischen Sinne.

Gerade Letzteres wirft die Frage auf, wie sich unternehmerische Demokratieförderung zu den drei Parametern des Nachhaltigkeitsmanagements – also Umwelt, Soziales und Unternehmensführung (ESG) – verhält. Ob also ESG und CPR nebeneinander oder gar in interner Konkurrenz zueinander stehen. Schaut man sich wesentliche Herausforderungen unserer Wirtschaft, wie beispielsweise den Clean Industrial Deal auf EU-Ebene, demographischen Wandel, Fachkräftemangel, Bürokratieabbau und Digitalisierung an, so wirkt CPR unmittelbar in allen drei Feldern. So ist CPR Nachhaltigkeitsmanagement aus sich selbst heraus und zahlt unmittelbar auf die Nachhaltigkeitsziele der UN ein.

Zunächst mit innovativen, smarten Produkten und Lösungen, die Evonik insbesondere in Europa entwickelt und weltweit für seine Kunden in nahezu allen Schlüsselindustrien produziert. Und damit mit der eigentlichen Kernkompetenz eines börsennotierten Chemieunternehmens. Aber auch mit Haltung, Meinung und dem Austausch mit anderen.

Die Richtung definieren

Vor knapp zwei Jahren haben Vertretende aus unterschiedlichen Unternehmensbereichen von Evonik ein politisches Leitbild erdacht, das heute noch aktueller und tragfähiger ist als bei seiner Entstehung. „Unternehmerisch handeln, politisch wirken. Mit Kompetenz, Überzeugung und Mut. Für Freiheit, Wohlstand und Zusammenhalt“, heißt es in den ersten Zeilen. Und weiter: „Wirtschaft muss politisch handeln. Denn Unternehmen sind Teil der Gesellschaft.“ Im Grunde sind damit Selbstverständnis und -auftrag formuliert. Die wesentlichen Handlungsfelder fasst das Papier zusammen: das Angebot zum Dialog mit den politischen Entscheidern der demokratischen Mitte; eindeutig nicht an den extremen Rändern. Die Bedeutung der Mitbestimmungskultur im Unternehmen. Der Anspruch, selbstbewusst und sichtbar Lobbyarbeit im Interesse des Unternehmens und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu machen. Die Vernetzung mit unterschiedlichen Partnern, auch aus der Zivilgesellschaft. Und die Verantwortung angesichts der Firmengeschichte, durch Bildungsangebote Demokratie zu fördern.

Die Aktivitäten und Diskussionen zu Nachhaltigkeit, Diversität und Inklusion haben in den Jahren in vielen Regionen stark zugenommen. Initiativen wurden gestartet und Ziele definiert. Nun sind die Diskussionen eher gegenläufig, und vieles wird wieder infrage gestellt. Für Evonik bleiben diese Themen unabhängig von polarisierenden Statements wichtig, und das Unternehmen arbeitet pragmatisch an ihnen. Denn es sind die richtigen! Wie die Demokratie. Evonik will faire Bedingungen innerhalb des Unternehmens und darüber hinaus. Und will an einer Zukunft der Welt mitwirken, die auch für unsere Kinder und Enkel so lebenswert ist wie für uns.

Positionen aktiv vertreten

Wirtschaft muss politischer werden“, sagt Evonik-Vorstandsvorsitzender Christian Kullmann. Er äußert sich in der Öffentlichkeit immer wieder auch dezidiert politisch. So kritisierte er die gescheiterte Ampelregierung für eine aus seiner Perspektive unzureichende Industriepolitik. Insbesondere bezog er aber klar und unmissverständlich Position gegen die AfD – in Interviews mit deutschen und internationalen Medien, in Podcasts oder mit anderen Rednern auf einer Gegendemonstration anlässlich des AfD-Bundesparteitags Ende vergangenen Juni in Essen. Der Wirtschaftsboss auf der Bühne am Mikrofon; die „Omas gegen Rechts“ und unterschiedliche Vertreter der Antifa als zustimmende Zuhörer. Im Kontext der CPR gibt es dafür einen Begriff: CEO activism. Der Topmanager als Aktivist. Auch das ist neu und in Deutschland eher unüblich. Hoffentlich werden es mehr. Und es ist etwas in Bewegung geraten: Einige mutige Unternehmer:innen und Unternehmen haben in den vergangenen Monaten ebenfalls Position bezogen. Etwa Prof. Reinhold Würth mit seiner Warnung vor der AfD. Oder das Berliner Finance Startup torq.partners, für das gelebte CPR ein wesentlicher Bestandteil unternehmerischen Selbstverständnisses ist.

Eine Haltung zu äußern, ist das eine. Danach zu handeln, das Wichtigere. Evonik nutzt dafür viele Wege. Wie beispielsweise die Social-Media-Kanäle für knackige Aufrufe zur Stärkung der demokratischen Mitte vor der Europa- und der Bundestagswahl oder das Intranet, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Möglichkeit bekommen, das eigene politische Engagement vorzustellen. Denn Demokratie braucht Demokrat:innen. Wenn sich Mitarbeitende des Unternehmens in Nordrhein-Westfalen um ein Bundestagsmandat bewerben, erhalten sie dafür die Rückendeckung des Managements. Denn Demokratie braucht Mandatsträger:innen gerade aus der Wirtschaft. Auf Bundesebene, aber auch regional und kommunal!

Hass im Netz, Desinformation und Verschwörungserzählungen sind Gifte, die unsere demokratische Gesellschaft beständig schädigen. Und die Werktore eines Chemieunternehmens können sie nicht aufhalten. Aus diesem Grund hat sich Evonik im Jahr 2021 als eines der ersten Unternehmen in Deutschland dem Business Council For Democracy (BC4D) angeschlossen. Was sich anhört wie eine elitäre Tafelrunde für Geschäftsleute, ist ein digitales Bildungsprogramm für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz. Unter Leitung der renommierten Publizistin Elisabeth Niejahr sensibilisiert der BC4D für die Gefahren auf Social Media und macht Selbstschutz- und Lösungsangebote. Getragen von der Robert-Bosch- und der Hertie-Stiftung ist der BC4D eine beachtenswerte Erfolgsgeschichte. Innerhalb von nur vier Jahren haben sich über 170 Unternehmen und Institutionen, von der Deutschen Bank bis zum Gewandhausorchester, dem Netzwerk angeschlossen. Mittlerweile geht die Rolle des BC4D über die reine Wissensvermittlung hinaus. Die Organisation versteht sich als Plattform, welche die wachsende CPR-Landschaft zusammenbringt und Impulse gibt.

Demokratie lernen und leben

Demokratiekompetenz im Unternehmen zu etablieren, ist der nächste und nachhaltige Schritt. Evonik möchte hier vorangehen und in diesem Jahr sogenannte Demokratielotsen identifizieren und ausbilden. Die Idee ist, ein Netz aus engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu entwickeln, die mit den Grundzügen demokratischen Handelns vertraut sind und in ihrem jeweiligen Arbeitsumfeld Orientierung geben und gegebenenfalls deeskalieren können. Dahinter steckt die Überzeugung, dass antidemokratische Erzählungen den Betriebsfrieden in empfindlicher Weise stören können. Der Nahostkonflikt oder die Migrationsdebatte bieten dafür erhebliches Potential. Hier vermittelnd und kompetent einzuwirken, ist ebenfalls Ausdruck einer politischen Verantwortung – und wirkt bestenfalls nicht nur in der Betriebskantine, sondern auch beim nächsten Familienfest, wenn Verwandte Verschwörungserzählungen aus ihren Telegram-Feeds zum Dessert servieren.

Zwei weitere Bildungsprojekte stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschichte der Vorgängergesellschaften von Evonik im Nationalsozialismus. Für das Chemieunternehmen hat die Ausbildung nicht zuletzt durch den Fachkräftemangel eine erhebliche Bedeutung. In diesem Jahr werden rund 500 junge Menschen an den Standorten von der Schweizer Grenze bis nach Norddeutschland ausgebildet. Den Auszubildenden bereits im ersten Ausbildungsjahr demokratisches Wissen und eine Debattenkultur zu vermitteln, ist Inhalt und Ziel des Demokratie-Pädagogik-Programms MUTausbruch. Antisemitismus, Alltagsrassismus und Wahlrecht sind Themen. Aber auch der NSU, Hass im Netz – oder was zum fulminanten Preisanstieg von Currywurst, Pizza oder Döner führt. Evonik konnte den Azubis im vergangenen Jahr ein Angebot von 29 unterschiedlichen Workshops machen. Entscheidend dafür sind viele Partner aus der Zivilgesellschaft, mit denen Evonik zusammenarbeitet: Vereine, Politik- und Bildungsinitiativen, Museen und lokale Vertreter:innen.

Noch einmal von der Gegenwart in die unternehmerische Vergangenheit: Die ehemalige Degussa hat ihre eigene Geschichte in der NS-Zeit (unter anderem Zwangsarbeit und die Produktion von Zyklon B) durch den amerikanischen Historiker Peter Hayes umfassend und schonungslos erforschen lassen und publiziert. Evonik hat als Nachfolgerin daraus einen moralischen Handlungsauftrag abgeleitet. Seit 2016 machen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens gemeinsam mit dem Sponsoringpartner Borussia Dortmund Gedenkstättenreisen in die Konzentrationslager Auschwitz und Birkenau. Nicht selten hört man danach von Mitreisenden eine Aussage wie: „Diese Reise hat mich verändert.“

Dort, in den Baracken und vor den Wachtürmen, bekommt der erste Paragraph des deutschen Grundgesetzes eine unmittelbare, gegenwärtige Bedeutung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Ist nicht allein deren Schutz Motivation genug für eine nachhaltige, gesellschaftliche und politische Verantwortung eines Unternehmens? Jedes Unternehmen, das dies bejaht, hat den ersten Schritt gemacht. Die Zeiten ändern sich. Es ist Zeit, den nächsten Schritt zu tun.

Aktuelle Beiträge