Anja Siegesmund ist geschäftsführende Präsidentin des BDE Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft e. V., in dem über 750 mittelständische Unternehmen organisiert sind. Als Präsidentin setzt sie sich dafür ein, den Hochlauf der Kreislaufwirtschaft entschlossen voranzutreiben, denn die Branche stärkt unsere Rohstoffsicherheit, sorgt für Wertschöpfung, schützt Klima und Biodiversität. Zuvor war sie Umweltministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin von Thüringen. Sie ist zudem Präsidentin des Deutschen Evangelischen Kirchentages.
Frau Siegesmund, Sie waren Umweltministerin in Thüringen. Seit Juni letzten Jahres sind Sie geschäftsführende Präsidentin des BDE. Wo steht die deutsche Wirtschaft in Bezug auf Kreislaufwirtschaft aktuell – auch im internationalen Vergleich
Anja Siegesmund: Wir sind besser, als wir glauben. Zum einen bei der Sammlung vermeintlicher Abfälle, die tatsächlich unsere Rohstoffe von morgen sind. So spielen wir bei der getrennten Erfassung und stofflichen Verwertung von Haushaltsabfällen mit rund 67 Prozent Recyclingquote ganz vorne mit und liegen deutlich über dem EU-Durch schnitt von etwa 55 Prozent. Zum anderen bescheinigen einschlägige Studien dem Standort ein in allen Dimensionen wettbewerbsfähiges Innovationsökosystem im Bereich Kreislaufwirtschaft. Forschung, industrielle Anwendung und Netzwerkstrukturen spielen hierzulande optimal zusammen. In Summe kann man sagen: Deutschland ist unter den derzeitigen Voraussetzungen top – aber zirkuläres Wirtschaften ist immer noch ein Thema, das als Prinzip ins Licht gezogen werden muss. Wir als BDE machen mit unseren Mitgliedsunternehmen die riesigen Potenziale sichtbar für mehr Wettbewerbsfähigkeit, eine sichere Wertschöpfung, stabile Lieferketten und damit einen zukunftsfähigen Wirtschaftsstandort.
Hat die geopolitische Lage der Transformation zur Kreislaufwirtschaft neuen Schwung gegeben?
Anja Siegesmund: Ja. Notgedrungen. Die geopolitischen Spannungen – etwa beim Zugang zu Lithium, Seltenen Erden oder Kupfer – haben nachdrücklich gezeigt, wie gefährdet unsere Wirtschaft durch Primärimportabhängigkeiten ist. Nur mit Diversifizierung sichern wir 12 Schwerpunkt // Kreislaufwirtschaft Schwerpunkt // Kreislaufwirtschaft die für die wichtigsten deutschen Leitmärkte notwendigen Lieferketten. Und als rohstoffarmes Land liegt dabei nichts so nah, wie sich der Frage zu stellen: Recyceln wir genug? Hier lautet die Antwort: Nein! Da müssen wir ran, und das ist der Kern der Kreislaufwirtschaft. Sie steigert die Resilienz entlang der Versorgungsketten, entkoppelt unser Wachstum vom Primärrohstoffimport und sichert gleichzeitig Klimaziele durch massive Emissionsreduktion.
Was erleben Sie im Austausch mit Ihren Mitgliedern: Wo hakt es am meisten – bei der Technik, beim Mindset oder im regulatorischen Umfeld?
Anja Siegesmund: Eine gute Frage. Das Mindset vieler Unternehmen ist mittlerweile auf zirkuläre Geschäftsmodelle eingestellt – wir hören oft: „we have solutions, but not the certainty to invest.“ Hier fehlt es an den richtigen Rahmenbedingungen, die politisch gesetzt werden müssen. Dazu gehört ein echtes Level Playing Field und ein Klima der Investitionssicherheit zu schaffen. Plus: Technisch sind wir in Deutschland stark: Mechanisches Recycling, chemisches Recycling, hochwertige Sortier- und Aufbereitungstechnologien sind am Start – doch ihr Ausbau stockt wegen fehlender (Finanz-)Anreize und Hürden in Genehmigungsprozessen.
Während große Unternehmen Net-Zero-Strategien festlegen, stehen Mittelständler häufig noch an einem anderen Punkt. Was brauchen KMU konkret, um in der Transformation nicht zurückzufallen?
Anja Siegesmund: Derzeit braucht der Mittelstand insgesamt vor allem Gehör in der Bundesregierung. Ich habe in den ersten 100 Tagen seit Amtsantritt kaum gehört, wie der Mittelstand als Tragbalken unseres wirtschaftlichen Wohlstands wirklich gestärkt und entlastet werden soll. Der Mittelstand benötigt finanzielle Planungssicherheit, regulatorischen Rückenwind, Entlastung von zu viel Bürokratie und schnellere Genehmigungsverfahren. Eine digitale Infrastruktur, die das Prinzip des One-Stop-Shop bedient, wäre eine große Erleichterung. Und die Zugänge zu Datenportalen (Stoffstromregister, Produktpässe etc.) müssen KMU-freundlich sein. Der AvaL-Standard – ist ein gutes Beispiel dafür, wie digitale Lösungen direkt aus der Unternehmerschaft entstehen. Er wurde nicht zentral verordnet, sondern entwickelte sich aus einem konkreten Bedarf heraus – praxisnah, zielgerichtet und mit echtem Mehrwert. Der BDE hat diesen Prozess von Beginn an aufgegriffen und koordiniert ihn weiterhin aktiv. Genau solche Initiativen brauchen deutlich mehr Unterstützung – sowohl national als auch auf europäischer Ebene. (Hintergrund: https://www.avalstandard.de/)
Die neue Bundesregierung ist im Amt. Sie betonen die Dringlichkeit, die kommenden vier Jahre zu nutzen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Was sind Ihre konkreten Erwartungen?
Anja Siegesmund: Bundesumweltminister Carsten Schneider hat sich mit den Worten „Der BDE und seine Mitgliedsunternehmen sind der starke Wirtschaftsverband, mit dem ich die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie umsetzen will“ bei unserem Tag der Kreislaufwirtschaft in Berlin bekannt. Gerade jetzt sind wir als mittelständisch geprägte und hoch innovative Branche die Lösung für viele Herausforderungen: Mehr Kreislaufwirtschaft zahlt auf Klimaschutz, auf stabilere Lieferketten und eine resiliente Wirtschaft ein. Ökologisch und ökonomisch ist das eine Win-win-Situation.
Was wir brauchen, ist mehr Schub. Hierfür haben wir ein Sofortprogramm vorgelegt. Die Erneuerbaren konnten sich auf dem Markt nur mit dem EEG durchsetzen. Die Kreislaufwirtschaft braucht bis 2030 genau diesen Hebel, also verbindliche Ziele für Rezyklatanteile in Produkten, Produkte, die nach dem Prinzip „Design for Circularity“ hergestellt werden und beschleunigte Genehmigungsprozesse für Recyclinginfrastruktur und Wärmenutzung aus Abfällen
Gemeinsam mit dem Bundesverband Sekundärrohstoffe und Entsorgung und dem Verband der Bayerischen Entsorgungsunternehmen hat der BDE klare Forderungen an die Bundesregierung gestellt, die in den ersten 100 Tagen der Legislaturperiode in Angriff genommen werden sollen. 100 Tage sind vorbei. Was wurde angestoßen, und wo wartet die Branche weiter hin auf Bewegung?
Anja Siegesmund: Unsere Forderung an die ersten 100 Tage lautete im Kern: wirksame strukturelle Reformen – insbesondere Bürokratieabbau, systematische Strompreisreduktion und Planungsgeschwindigkeit. Diese Punkte sind in Teilen bearbeitet. Wir haben auf unserem ersten Tag der Kreislaufwirtschaft im Juni in Berlin deutlich gemacht, was wir erwarten. Und es ist Zeit, dass sich was dreht. Um die Entsorgungsinfrastruktur vor durch falsch entsorgte Lithium-Ionen-Batterien zu schützen, gibt es immerhin einen Runden Tisch. Und die Genehmigungspraxis für unsere Anlagen wird Schritt für Schritt beschleunigt. Gut.
Was wir uns wünschen, sind konkrete Umsetzungsgesetze, eine verbindliche Umsetzung der Kreislaufwirtschaftsstrategie, einen nationalen Rohstoff-/Recyclingfonds nach niederländischem Vorbild und dass die öffentliche Hand in ihren eigenen Vergaben darauf achtet, kreislauffähige Produkte zu nutzen. Die 500 Milliarden Euro Sondervermögen sind unter der Maßgabe im Bundestag verabschiedet worden, dass auch die Klimaziele damit erreicht werden können. Die öffentliche Hand kann gezielt Kreislaufwirtschaft anreizen

Politischer Dialog: BDE-Prasidentin Anja Siegesmund mit Bundesumweltminister Carsten Schneider beim Tag der Kreislaufwirtschaft in Berlin. Quelle: BILDSCHÖN/Trenkel
Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung verspricht die Erarbeitung eines Eckpunktepapiers zur nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie. Sehen Sie darin eine Grundlage für den nötigen regulatorischen Rahmen und die richtigen Anreize?
Anja Siegesmund: Der Koalitionsvertrag enthält Ansatzpunkte. Der BDE hat diese Formulierungen ausdrücklich begrüßt. Die Nationale Kreislaufwirtschaftsstrategie wird weiterverfolgt und im Dialog mit Wirtschaft und Wissenschaft vorangetrieben.
Doch diese Ansätze müssen umgehend in ein aktives Programm übersetzt werden. Bundesumweltminister Carsten Schneider hat bereits am Tag der Kreislaufwirtschaft angekündigt: „Wir werden deshalb in den nächsten Monaten ein Eckpunktepapier formulieren, das es uns ermöglicht, ein Sofortprogramm zur Kreislaufwirtschaft zu starten.“ Angesichts globaler Rohstoffkrisen, fehlender Investitionssicherheit und wachsender Wettbewerbsnachteile ist kein Zögern mehr vertretbar. Das „Startsignal“ wollen wir gerne mit setzen.
Der BDE betont, dass der Green Deal auf EU-Ebene ein Schritt in die richtige Richtung sei. Welche konkreten Maßnahmen auf EU-Ebene halten Sie für besonders wirksam, wo wünschen Sie sich Ausbau?
Anja Siegesmund: Die EU-Ansätze – wie der künftige Circular Economy Act (ab 2026) für einen Binnenmarkt von Sekundärrohstoffen und verpflichtende Rezyklateinsatzquoten – sind grundsätzlich richtig und wichtig für Verbindlichkeit über nationale Grenzen hinweg. Die Richtlinien für Verpackungen, Batterien, Elektrogeräte beinhalten sinnvolle Standardisierungsvorteile. Nur: Ohne verbindliche Quoten und ein EU-weit standardisiertes Green Public Procurement mit Rezyklatanteil, als knallharte, einklagbare Kulisse, bleiben wir unter unseren Möglichkeiten.
Regulatorik bedeutet in Deutschland häufig auch Bürokratie – ohnehin das aktuelle Stichwort in Bezug auf Nachhaltigkeit. Sehen Sie darin nicht eher eine Hürde?
Anja Siegesmund: Ich bin der festen Überzeugung, dass kluge Regulatorik Märkte schafft. Vor allem solche für nachhaltiges Wirtschaften. Also ein echtes Chancenthema. Es wird aber hinderlich, wenn unsere Branche, die unsere Welt jeden Tag ein bisschen sauberer und resilienter macht, den Eindruck haben muss, am Tun gehindert zu werden. Entscheidend ist für uns ein zeitnahes Transparency-Casting, also Verpflichtung der Behörden zur kurzen Entscheidung, Klarheit beim Zuwendungsrecht für Recyclinginfrastrukturen und eine transparente, konsistente sowie harmonisierte Genehmigungspraxis in Deutschland und der EU.
Jenseits der politischen Rahmenbedingungen – wo sehen Sie die größte konzeptionelle Herausforderung für echte Kreislaufwirtschaft?
Anja Siegesmund: Die größte Herausforderung liegt tatsächlich in einem grundsätzlichen Denkwandel, an dem wir aktuell intensiv arbeiten müssen. „Design for Recycling“ ist eigentlich der falsche Ansatz – es müsste „Design for Circularity“ heißen. Denn Kreislaufwirtschaft bedeutet im Kern nicht, dass die Entsorger am Ende die Sache regeln müssen, sondern Produkte müssen von Anfang an kreislauffähig konzipiert werden. Das ist ein fundamentaler Unterschied: Während Design for Recycling erst am Lebensende ansetzt und fragt „Wie können wir das noch verwerten?“, beginnt Design for Circularity bereits in der Produktentwicklung und denkt Demontage, Reparatur, Wiederverwendung und Materialrückgewinnung von vornherein mit. Erst wenn wir diese Denkweise in der Industrie durchsetzen, werden wir echte Kreislaufwirtschaft erreichen – und nicht nur bessere Abfallverwertung.
Sie warben als Ministerin beharrlich für mehr Mut zur Veränderung. Wie setzen Sie dieses Leitmotiv heute als Verbandspräsidentin um – in Ihrer persönlichen Arbeit und motivierend gegenüber Ihren Mitgliedern?
Anja Siegesmund: Mut heißt, den Blick nach vorn zu richten – nicht nur kreativ, sondern lösungsorientiert. Ich bringe dieses Leitmotiv aus meiner Zeit als Umweltministerin aktiv in die Verbandsarbeit ein: Wir fördern regelmäßig Dialogformate mit Start-ups und innovationstreibenden Unternehmen, um zukunftsfähige Impulse für die Kreislaufwirtschaft zu setzen. Das Ziel ist für uns alle klar: Europa kann und wird 2045 als erster Kontinent klimaneutral wirtschaften. Das gelingt nur mit einer echten Kreislaufwirtschaft.
Auf LinkedIn schrieben Sie kürzlich in Bezug auf die Chancen zur erfolgreichen Transformation: „Das Fenster steht weit auf.“ Was raten Sie Unternehmen, um nicht nur dabei zu sein, sondern vorn mitzugestalten?
Anja Siegesmund: Zirkuläre Geschäftsmodelle sind erfolgsversprechende Modelle. Wir tun gut daran, endlich raus aus der linearen Denke des Produzierens, Nutzens und Wegwerfens zu gehen und von Anfang an zirkulär zu denken. Kein Windrad dreht sich ohne Neodym, aber es zu recyceln, ist technisch aufwändig und noch nicht im großen Maßstab etabliert. Die Rotorblätter von Windrädern zu recyceln, ist ebenso technisch aufwändig, aber lösbar. Da warten unzählige Herausforderungen auf uns. Als Gesellschaft, aber auch als Wirtschaft. Unternehmertum heißt: eigenverantwortlich etwas Neues zu schaffen, Risiken einzugehen und Innovationen wirtschaftlich umzusetzen. Das ist die Aussicht auf echte Rendite: Unternehmen, die vorne mitmachen, generieren Wertschöpfung, stärken ihren Standort, und Sie prägen die Regeln, statt sie zu verwalten. Nur Mut!
Die Fragen stellen Gregor Vischer und Maike Waismantel.




